Reden

 

Pfarrer Ludwig Kirsch zeichnete sich durch eine Gabe aus, die ihn allseits bekannt machte: die Kunst der öffentlichen Rede. Egal, ob in seinen Predigten oder in politischen Reden; er wusste die Zuhörer zu packen und stellte auch komplizierte Sachverhalte so dar, dass sie auch begreifbar waren. Nie bediente er sich einer "Kirchensprache" (außer vielleicht in seinen ersten Predigten) oder eines parteichinesischen Vokabulars. Es sagte klar und verständlich und unter Vermeidung von Fremdworten was er dachte und nahm kein Blatt vor den Mund.

Die Klarheit seiner Aussagen und Anliegen spiegelt sich überall wider, wo er schreibt oder redet. Im Archiv sind einige seiner Redemanuskripte vorhanden. Die Suche nach Tonband- oder Filmaufnahmen bei verschiedenen Institutionen verlief bisher leider ohne Ergebnis. Pfarrer Kirsch hielt mehrere Ansprachen im MDR. Auch dort verlief die Suche nach den Bändern trotz Rechnungsnummern usw. leider ergebnislos. Daher ergeht an dieser Stelle ein "Hilferuf": Wer Kenntnis hat, wo sich eventuelle Ton - oder Filmdokumente befinden, melde sich bitte unter Kontakt hier im Projekt. Danke!

 

Auch diese Seite wird nach und nach weiter ergänzt.

 

Rede 1:

"Deutsche Politik zwischen Ost und West"                03. September 1948 in Großenhain

Rede 2:

 

 

Der Faschismus als Feind aller Kultur

 

Vortrag von Ludwig Kirsch an die Jugend vom 14. Januar (Jugendschule Thalheim) und 21. Februar 1946 (Staatsgymnasium Chemnitz)

 

Wenn wir ein Thema richtig verstehen wollen, müssen wir zuerst klare Begriffe haben. Kultur kömmt vom lateinischen „colere = pflegen“. Kultur ist Wesenspflege, d.h. das Bemühen, alle guten Möglichkeiten einer Sache zur allseitigen Entfaltung zu bringen. In diesem Sinne gibt es eine Pflanzenkultur, eine Tierkultur usw. Im engeren Sinne aber ist Kultur Wesensentfaltung des Menschen als des höchsten irdischen Lebewesens. Der Mensch besteht aus Leib und Geist (Seele); beide sind mit reichen Anlagen und Fähigkeiten ausgestattet, deren größtmögliche Entwicklung Aufgabe echte Kultur ist. Das Hochziel aller Persönlichkeitskultur ist also der „gesunde Geist im gesunden Körper“, wie schon die alten Römer sagten: „mens sana in corpore sano.“ Es gibt demnach eine Körperkultur und eine Seelenkultur, und da das geistige Leben über dem leiblichen steht und dieses regiert, besagt ein altes Sprichwort: „Die Kultur der Seele ist die Seele aller Kultur“. Das bedeutet aber keineswegs Verachtung der leiblich-irdischen Kultur. Körperpflege, Gesundheit und Schönheit des Leibes, geschmackvolle Kleidung, Wohnungskultur haben ihren Wert und Standpunkt im Reiche der Kultur. In gewissem Sinne wird man sogar die Kultur eines Volkes danach beurteilen, wie weit diese sichtbaren Zeichen äußerer Kultur bei den Einzelnen in Erscheinung treten. Aber wenn wir dieser Behauptung gegenüber die Tatsachen halten, die uns aus dem 3. Reiche bekannt geworden sind und wie sie jetzt im Nürnberger Prozess vor den entsetzten Blicken der Welt sich abrollen, Massenermordungen, Todesquälereien, KZ usw., dann müssen wir uns doch allen Ernstes fragen: waren wir trotz aller Leibeskultur und modernen Zivilisation wirklich noch ein „Kulturvolk“?

 

Es muss zur wahren Kultur doch noch etwas anderes gehören, Wesentlicheres als die genannten äußeren Merkmale, und das ist die Kultur des Geistes und Gemütes. Verstand und Wille, Gemüt und Phantasie als Wesensmerkmale der menschlichen Seele bedürfen ebenso und erst recht der pfleglichen Entfaltung weil alle Fähigkeiten des Körpers und die Dinge der sichtbaren Umwelt. Dem dienen als Kulturmittel die Wissenschaft als Pflege aller Erkenntnismöglichkeiten, die Formen der Kunst (Musik, Malerei, Baukunst, Theater usw.) als Pflege von Gemüt und Phantasie, die Sittenordnung als Pflege der Willenskultur und des Rechtsgedankens und sicher auch die Religion als übernatürlicher Ordnungsfaktor und Wertmesser für die Ganzheit des Menschen. Und zwar müssen alle diese Seelenkräfte harmonisch entfaltet werden, denn Kultur ist Harmonie in der Mannigfaltigkeit.

 

Sehen wir uns z.B. einen Wald an: wenn da auf der Erde nur viele Bäume kerzengrade in Reih und Glied stehen würden, so wäre das eintönig. Aber da stehen Bäume verschiedener Art und Größe, da wuchern zu ihren Füßen das Waldgras und die Beerensträucher, da wachsen die Pilze, da fliegen Vögel singend von Baum zu Baum, da streicht der Fuchs durch das Dickicht, Reh und Hase jagen in elastischen Sprüngen über die Waldblöße, und alles durchgoldet die Sonne mit ihrem Strahlengeflimmer, und, so in der Füller dieser vielerlei Schönheiten rundet sich harmonisch das herrliche Bild unseres deutschen Volkes.

 

Und so denke ich mir die wahre Kultur des Menschen:

Nicht nur trockener Verstandesfanatiker, nicht nur kantiger Willensakrobat, nicht nur verweichlichter Gefühlsdusler, nicht nur verträumter Phantast, nicht nur körperlich durchtrainierter Muskelheld oder wandelnder Schönheitssalon, sondern von allem etwas  und alles zusammen in harmonischer Abstimmung zueinander: ein gereifter Denker, ein willensstarker Charakter, gemütvoll und phantasiebegabt, wahrhaft eine Persönlichkeit, dabei in Körperhaltung und Kleidung gesund und anziehend, ohne aufzufallen. Ein solcher Mensch ist innerlich wahrhaft frei, er ist fähig, sich selbständig ein Urteil über das Leben und geschichtliche Werden zu bilden, er ist voller Achtung gegenüber jedem anderen Menschen und Volk in seiner Eigenart, ohne jene arrogante Selbstüberhebung des Nazismus, er ist interessiert an jeglichem menschlichen Fortschritt, woher er auch komme, er hat ein Herz für fremdes Leid und Weh. Je mehr solche Menschen ein Volk besitzt, desto mehr ist es ein Kulturvolk!

 

Unsere europäische Kultur beruht auf den Grundlagen der griechisch-römischen Antikkultur, die vom Christentum in wesentlichen Teilen übernommen und vervollkommnet wurde und in den einzelnen Ländern entsprechend der Eigenart ihrer Völker jeweils ihr besonderes Gesicht erhielt. Solange das Christentum als einheitliche weltanschauliche Grundlage alle europäischen Völker umfasste, hatte diese abendländische Kultur ihr einheitliches Gesicht. Mit der Schwächung dieser weltanschaulichen Grundlage zersplitterte sich diese europäische Kultur und an ihre Stelle trat der Nationalegoismus der Einzelstaaten. Die einzelnen Kulturbezirke brachen auseinander, verloren teilweise die Fühlung miteinander und gerieten sogar in Gegensatz zueinander. Die nationalistische Politik wurde nach und nach zum Totengräber der echten Kultur, die in der gegenseitigen Befruchtung der Völker sich entfaltete. Dabei brachte die gewaltige Entwicklung der Technik im 19. und 20. Jahrhundert einen Täuschungsfaktor insofern, als man alle dadurch erreichbaren Erleichterungen des irdischen Lebens schon an sich als „Kulturfortschritt“ ansah, während sie doch nur „Zivilisation“ darstellten. Elektrische Bahnen und Telefon, Radio und Flugtechnik, Wasserleitung und elektrisches Licht sind gewiss sehr nützliche Dinge, aber sie können keinen charakterlosen Menschen zum Charakter, keinen Egoisten selbstlos, keinen unglücklichen Menschen innerlich glücklich machen. Und das muss eben das Ziel aller wahren Kultur sein, denn sonst bliebe gerade das Wertvollste im Menschen, sein Geist, unentwickelt und ungepflegt.

 

Diese Ausführungen waren notwendige Voraussetzung für die Beweisführung, dass der Faschismus der wesenhafte Feind aller Kultur ist. Er sah das Menschenbild völlig verzerrt und falsch: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“. Damit gilt der Mensch nicht mehr als Persönlichkeit, sondern nur als stumpfes Glied der Masse, er ist nur eine seelenlose Nummer in der namenlosen Masse des Volkes. Dementsprechend wurde er auch behandelt, bei uns selbst und bei den unterjochten Völkern. Hieraus erklären sich die völlige Auflösung des Rechtsstaates mit Gestapo und SS-Methoden, die hemmungslosen Massenmorde, die Zerstörung aller Freiheiten der Meinung, der Presse, des Glaubens, die geistige Verblödung des ganzen Volkes vom Schulkind bis zum Greise. „Der Führer denkt für alle“ – darum musste jedem das eigene Denken systematisch aberzogen werden. Und weil der Militarismus schon seit Jahrzehnten unser Volk daran gewöhnt hatte, vor jedem Brüller stramm zu stehen und in der uniform die Verkörperung der Staatsautorität zu sehen, war es dann Hitler’s Faschismus nicht allzu schwer, mit Marschmusik, Uniformfimmel und Lautsprecherbefehlen schließlich das Volk wie eine Hammelherde in eine Richtung zu drehen und zum willenlosen Marsch in den Abgrund zu führen. Das erschütterndste war vielleicht dabei, dass man sogar die echten Kulturwerte der Vergangenheit in den Dienst dieses Massenwahnsinns zu stellen wusste. Das gesamte Schulwesen von der Volksschule bis zur Universität wurde einheitlich darauf ausgerichtet, nur Vorgedachtes nachzuplappern, einseitig den Leib zu pflegen und den Geist verkommen zu lassen. Das „Jawoll“ wurde zum blöden Ausdruck höchster Staatsgesinnung! Theater und Kino dienten der einseitigen, überheblichen Verherrlichung des deutschen Volkes und einer verlogenen Geschichtsklitterung und der Herabsetzung fremden Volkstums. In der Musik übertönte der Marschrythmus alles andere. Die großen Meister der Kunst galten nur insoweit, als sie sich in diese nationalistische Enge pressen ließen und – vor allem – absolut arisch waren und nicht etwa einem „feindlichen“ Volke entstammten.

 

Da die Religion auf der Achtung vor der Persönlichkeit beruht, war es selbstverständlich, dass der Faschismus auch ärgster Feind jeder Religion, besonders der christlichen, war, die Kirchen verfolgte und Tausende von Geistlichen ermordete oder in KZ sperrte. In derselben Linie lag die gesamte grausame Judenverfolgung, der in Europa schätzungsweise 6 Millionen Juden zum Opfer gefallen sind, eine Folge jenes verbrecherischen Rassedünkels, auf den Hitler so stolz war. Da der Faschismus den Menschen nur als unpersönliches Werkzeug und Objekt des autoritären Staates ansah, waren Alte, unheilbar Kranke und Geistesschwache Menschen für ihn nur nutzloser Ballast, ihre Ermordung in besonderen Anstalten eine Befreiung von unnützen Essern

 

Die Verachtung des Menschen fand ihren entsetzlichen Gipfelpunkt in den Massenmorden an Millionen und Abermillionen von unschuldigen Menschen in ganz Europa in einem Umfange und mit Methoden, wie sie die ganze Geschichte der Menschheit in ihren dunkelsten Zeiten nicht kennt. Man erfand die Gaskammern und Verbrennungsöfen, man tötete mit Genickschuss und Maschinengewehren, mit Dynamit und durch ersäufen in Bergwerken. Wohlgemerkt: Hilflose Zivilisten, Greise, Frauen und sogar Kinder, in vielen Fällen nach vorausgegangenen barbarischen Quälereien und Martern. Man machte an lebenden Menschen medizinische Experimente, meist ohne Betäubung, man fertigte Bucheinbände und Lampenschirme aus Menschenhaut und beschenkte sich gegenseitig damit. Wahrhaftig, die menschliche Sprache ist zu schwach, um dafür ein gerechtes Urteil zu finden! Alldem aber liegt das falsche, kulturlose Menschenbild zugrunde, das der Faschismus erfunden hat. Nachdem das echte Gottesbild aus den Herzen der modernen Menschheit weithin entschwunden ist, stürzte nun im Faschismus auch das echte Menschenbild in sich zusammen und übrig blieb die verzerrte Fratze eines entseelten Massenwesens, dem nichts menschliches mehr zu eigen war. Wenn aber der Mensch als solcher nicht mehr gesehen und geachtet wird, dann ist die Voraussetzung jeglicher Kultur zerstört und so wurde der Faschismus zum Totengräber der Kultur.

 

All das Gesagte galt von Anfang an, als sich der faschistische Irrwahn zuerst in Italien erhob, und wurde dann im Nationalsozialismus noch gesteigert. Aber diese Totengräberarbeit wurde vollendet durch das größte und von vornherein erstrebte Schandwerk des Faschismus: den verbrecherischen Krieg! Seit 1933 galt alle Arbeit nur der Kriegsvorbereitung. Der ganze Schwindel von der Überwindung der Arbeitslosigkeit war aufgebaut auf dem gewaltigen Anlaufen der Rüstungsindustrie. Ebenso viele Menschen, als damals der Nationalsozialismus seit 1933 in Arbeit brachte, sind dann seit 1939 auf den Schlachtfeldern gefallen oder zu Krüppeln geworden. 90 Milliarden Mark- so rühmte sich Hitler selbst am 1.9.1939 in seiner Reichtagsrede – hat er für den Aufbau seiner Kriegsmaschine verbraucht. Wie viel echte Kulturgüter, wie viel Fortschritt menschlicher Zivilisation hätte sich für das deutsche Volk und die Welt schaffen lassen, wenn nur die Hälfte dieser ungeheuren Summe für friedlichen Aufbau verwendet worden wäre! Ganz abgesehen davon, dass heute vielleicht das zehnfache davon durch den Krieg an Werten in ganz Europa vernichtet worden ist!

 

Denn der Krieg zerstört alle äußeren Kulturdenkmäler: die Schönheit der Landschaft und der Städte, Universitäten und Theater, Kirchen und Museen, die Fruchtbarkeit der Fluren und nicht zuletzt die Menschenleben als die wahren Träger der Kultur. Er stellt Wissenschaft und Technik, die ihrem Wesen nach dem Wohle der Menschheit dienen sollen, in den einseitigen Dienst der Vernichtung. Er verroht die Herzen, zerstört die Achtung vor dem Leben, vor fremden Eigentum, vor der Ehre der Mitmenschen, vor dem Recht der Völker. Insbesondere der Totale Krieg, wie ihn die Nazis erfunden haben, lässt kein Gebiet des menschlichen Lebens, Denkens und Handelns außer Betracht; alles, restlos alles hat er in den Dienst des Todes gestellt. In grausiger, wahnwitziger Selbstvernichtung haben wir unser eigenes Land verwüstet, indem wir den Krieg, nachdem er in den Augen aller vernünftig Denkenden längst verloren war, „bis 5 nach 12“ weitergeführt haben, weiterführen mussten, weil die verbrecherische Führerschicht des Faschismus ihr erbärmliches Leben noch ein paar Monate und Wochen länger fristen wollte. Ley: „Wir kämpfen vor Berlin, wir kämpfen in Berlin, wir kämpfen hinter Berlin“! W i r ? Nein, Herr Dr. Ley und Konsorten haben nicht gekämpft, sie haben sich feige versteckt, von einem Schlupfwinkel bis zum anderen, bis doch einer nach dem anderen vom Arm der Gerechtigkeit gepackt und hinter Schloss und Riegel gesetzt wurden. Unser armes deutsches Volk aber liegt nun im Elend am Boden, im heroischen Kampf ums nackte Leben, zwischen Ruinen und Trümmern. Weite Kreise sind auch geistig völlig abgestumpft und interesselos geworden.

 

Nachdem sie 12 Jahre lang belogen und betrogen worden sind, wollen sie nichts und niemandem mehr glauben, haben vielfach leider auch den Glauben an sich selbst verloren. Darum ist es eine unserer wichtigsten Aufgaben, Selbstvertrauen und das Wissen um die Menschenwürde wieder zu wecken, unsere deutschen Menschen wieder zum Persönlichkeitsbewusstsein zu erziehen. Denn nur so können wir eine neue Kultur aufbauen und den Anschluss an die großen ewigen Werte menschlicher Kultur wieder finden. Das ist der tiefste Sinn demokratischer Erziehung! Gerade der Jugend obliegt hier eine große Aufgabe! Sie ist am Wenigsten mit Schuld belastet, sie verfügt noch über die unverbrauchte, frische Spannkraft der Lebenshoffnung, sie will leben und schaffen, streben und vorwärts kommen. Unsere jungen Menschen sollen dabei aber nicht nur an die rein materiellen Güter denken, die nur die eine Seite der Kultur darstellen, sondern sie müssen sich bewusst bleiben, dass letzten Endes alle Kultur vom Geiste her genährt wird. Darum dürfen wir nicht gedankenlos einfach nachsagen, was vorgesagt wird, sondern sollen stets versuchen, uns über alles eigene Gedanken zu machen, im gegenseitigen Gedankenaustausch die eigenen Gedanken zu klären und zu berichtigen und so jeder zu einem selbst erarbeiteten Gesamtbilde zu kommen. Dann mag wieder eine neue Geistigkeit erstehen in deutschen Landen, vielgestaltig und mannigfaltig wie die Natur da draußen, nicht geistlos uniformiert wie im Faschismus, aber zusammengehalten und zusammengefügt in der edlen Harmonie einer wahren Kultur.